Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis: Das Kölner Erzählcafé

„Ich bin ein niederrheinischer Jude.“ - Der Holocaust-Überlebende Dr. Thomas Gabelin erzählte Schüler:innen des Hansa-Gymnasiums aus dem Leben seiner Familie während des Kölner Erzählcafés

(Norbert Grümme, 18. September 2022)

Foto: Eduard Lofenfeld

Nach mehr als zweieinhalb Jahren Zwangspause wurde dieses Erzählcafé erstmalig wieder von der Leiterin Frau Vanessa Rex und der pensionierten Geschichtslehrerin des Hansa-Gymnasiums, Frau Ursula Merz, durchgeführt. Am Donnerstag, 15.09.2022, durften 21 Schüler:innen des Hansa-Gymnasiums gemeinsam mit ihren beiden Lehrern Herrn Eles und Herrn Grümme an den bewegenden Erzählungen des Holocaust-Überlebenden Dr. Thomas Gabelin teilhaben. Zeitzeugenprojekte bieten jungen Menschen im direkten Austausch mit den ehemals Verfolgten einen ganz persönlichen Zugang zur Geschichte der NS-Zeit. Das Kölner Erzähl- und Begegnungscafé für NS-Verfolgte wird vom Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte seit über 20 Jahren ermöglicht. Der Bundesverband vertritt die Interessen aller NS-Verfolgten und ihrer Nachkommen. Die Betroffenen werden hier beraten, um so die Lebenssituation der Überlebenden mit sozialen Projekten zu verbessern.

Die Geschichte des promovierten Psychologen Dr. Thomas Gabelin ist eine bewegende Familiengeschichte, denn er wurde in dem ehemaligen Ghetto und Theresienstadt geboren, einem Ort, an dem über 141.000 Menschen interniert wurden. Das Ghetto war Teil des Vernichtungsfeldzuges gegen die jüdische Bevölkerung. Ein Viertel der Gefangenen des Ghettos Theresienstadt (etwa 33.000) starben wegen der entsetzlichen Lebensumstände, so betonte Dr. Gabelin. Etwa 88.000 Häftlinge wurden nach Auschwitz oder in andere Vernichtungslager wie Treblinka, Majdanek oder Sobibor deportiert. Nur ca. 4.000 Menschen davon überlebten den Krieg. Unter den Toten waren auch viele tausend Kinder. Von den fünfundzwanzig in dem „Vorzeigeghetto“ Theresienstadt geborenen "reichsdeutschen Kindern" überlebten nur zehn, davon sei er eines gewesen, so Dr. Gabelin.

Foto: Eduard Lofenfeld

Vanessa Rex fasst die Lebensgeschichte zusammen:

„Dr. Thomas Gabelin wurde am 21. Dezember 1944 geboren. Jedoch nicht in Krefeld, dem Herkunftsort seiner Eltern, sondern im Ghetto Theresienstadt. Seine Eltern, Lore und Werner Gabelin, waren am 13. Oktober 1944 dorthin deportiert worden. Thomas Eltern stammten beide aus jüdisch-katholischen Familien. Mit der antisemitischen Politik der Nationalsozialisten und den Nürnberger Rassegesetzen änderte sich das Leben von Lore und Werner schlagartig. Fortan definierten die Nationalsozialisten wer als „(Voll-) Jude“ galt, oder als sog. „Mischling ersten und zweiten Grades“.
Thomas` Eltern wurden bei ihrer Hochzeit 1942 von dem Standesbeamten als „Mischlinge 1. Grades“ eingestuft. Die Lebenssituation war für das junge Paar äußerst schwierig. Im September 1942 wurde ihr Sohn Richard (Thomas Gabelins Bruder) geboren. Während dieser Zeit wurde die Situation für Juden in Deutschland und Europa immer aussichtsloser. Die systematische Vernichtung der europäischen Juden war bereits in vollem Gange. Die noch in Deutschland lebenden Juden wurden massenweise deportiert. Thomas Urgroßvater war bereits 1941 in einem jüdischen Altersheim im Zuge des Euthanasie-Programms der Nazis ermordet worden.
Auch für die sog. „Mischlinge 1. Grades“ wurde die Situation immer gefährlicher. Zwar blieben sie noch vor den Deportationen verschont. Doch der Verfolgungsdruck nahm ab 1942 immer mehr zu. Im Jahr 1943 wurden die Nazi-Behörden auf die Familie von Thomas Gabelin aufmerksam. Wenig später wurden seine Eltern als „Juden“ erklärt. Am 17. September 1944 wurden sie und weitere Familienmitglieder verhaftet und zu einem Sammelplatz in die Großviehhalle des Schlachthofs Düsseldorf gebracht. Lore und Werner Gabelin wurden von dort aus nach Theresienstadt deportiert. Zu diesem Zeitpunkt war Lore Gabelin mit ihrem zweiten Kind (Thomas Gabelin) schwanger. Der zweijährige Richard entging dem Abtransport nur deshalb, weil sein Name durch Zufall auf der Liste fehlte und sein katholischer Großvater (Fritz Müller) ihn wieder mit nach Hause nehmen durfte.
Dass Thomas Gabelin in Theresienstadt geboren wurde, und überleben konnte, grenzt an ein Wunder. Seiner Mutter gelang es, ihn trotz der unmenschlichen Lebensbedingungen am Leben zu halten. Gemeinsam mit ihrem Mann Werner und Thomas überlebte sie Theresienstadt. Kurz vor der Befreiung wurde auch Lores Mutter Else (Thomas Großmutter) nach Theresienstadt deportiert. Dort trafen die Familienmitglieder wieder zusammen. Im Mai 1945 wurde Theresienstadt von russischen Truppen befreit. Lore, Werner und ihr Sohn Thomas konnten im Sommer 1945 nach Krefeld zurückkehren. Thomas Großmutter verstarb kurz nach der Befreiung an Typhus. Seine Tante Ilse (Schwester von Lore) war im April 1945 in Zeitz befreit wurden. Sie war dorthin zur Zwangsarbeit in der Organisation Todt verschleppt worden.
In Krefeld fanden Lore und Werner Gabelin auch Thomas` Bruder Richard wieder. 1949 versuchte die Familie in die USA auszuwandern, was jedoch an der KPD-Mitgliedschaft von Werner Gabelin scheiterte. So verblieb die Familie in Krefeld, wo Thomas Gabelin auch heute noch lebt. Er ist promovierter Psychologe.
Viele weitere Angehörige der Familie überlebten die Shoah jedoch nicht. 65 Verwandte aus den weiteren Zweigen von Thomas Gabelins Familie wurden während der Zeit des Nationalsozialismus umgebracht, einige Schicksale sind immer noch ungeklärt."