Zeitzeugengespräch mit Dr. Leon Weintraub - „Das Schlimmste ist das Vergessen“

Der heute 93-jährige Dr. Leon Weintraub hat die Shoah überlebt. Es leben nicht mehr viele Menschen wie er. Heute lebt er in Stockholm und hat sich zum Ziel gesetzt, der Welt zu schildern, zu welchen unvorstellbaren Gräueltaten Menschen fähig sind – und welchen Lebenswillen Menschen aufbringen können. „So lange ich dazu noch in der Lage bin, denn Zeitzeugen wie mich gibt es nur noch wenige.“
Interessierte Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe sowie Eltern und Lehrende des Hansa-Gymnasiums waren hierzu in die Aula eingeladen. Der WDR und die Kölnische Rundschau haben von dieser Veranstaltung berichtet.

Zu Beginn der Veranstaltung wurden Dr. Leon Weintraub und seine Frau Evamaria durch die beiden Musiklehrer Rudolf Eles und Jakob Ernst mit einem besonderen Stück der Musikgeschichte begrüßt: Die Élégie für Violoncello und Klavier c-Moll op.24 von Gabriel Fauré - Musik, die „unter die Haut geht", so die Schulleiterin Erika Nausester-Hahn in der Begrüßung auch des Ehepaars Bethe, die mit ihrer Bethe-Stiftung seit 2012 die Gedenkstättenfahrten am Hansa-Gymnasium fördern.
Leon Weintraub redete zwei Stunden vor seinem größtenteils jungen Publikum, frei und ohne Manuskript. Sachlich will er sein, wenn er erzählt - ohne Selbstmitleid will er die Dinge beschreiben, die man sich doch kaum vorstellen kann. Er fühle sich verpflichtet, in der Öffentlichkeit trotz der Strapazen weiterzumachen und zu erzählen, seinen verstorbenen Familienmitgliedern, aber auch den jungen Leuten gegenüber. „Erinnern heißt vergegenwärtigen. Denn so etwas wie damals darf sich nie mehr wiederholen." Er kehrt seit den 90er Jahren fast jedes Jahr an die Orte seiner Entmenschlichung zurück - nach Łódź, Auschwitz und Flossenbürg.
Leon Weintraub wurde 1926 als das fünfte Kind einer polnisch-jüdischen Familie in Łódź/Polen geboren. Schon ein Jahr später starb sein Vater, so dass die Mutter ihn und seine vier Schwestern in Armut unter schwierigen Verhältnissen allein aufziehen musste. Bis zum Kriegsausbruch ging Leon sechs Jahre in die Schule. Mit 13 Jahren erlebte Leon im Zuge des deutschen Überfalls auf Polen im September 1939 den Einmarsch der Wehrmacht auch in seiner Heimatstadt Łódź. Bereits im Winter 1939 musste Familie Weintraub ins Ghetto Litzmannstadt umsiedeln, das von den Deutschen in Łódź errichtet wurde. Über vier Jahre musste Leon dort unter menschenunwürdigen Verhältnissen leben und Zwangsarbeit leisten. Hierzu erzählte er seinem aufmerksamen Publikum: „Ihr denkt vielleicht, ihr habt Hunger, wenn ihr mal nach einem langen Tag ohne Zeit für eine Mittagspause nach Hause kommt. Wir konnten uns fünf Jahre und acht Monate nicht satt essen. Das war Hunger. Für acht Leute gab es einen Laib Brot, Suppe und Kohlrüben. Es war ein Fest, wenn mal zusätzlich ein Sack Kartoffelschalen abfiel. Wir wurden wie Vieh behandelt. Es war kaum zu ertragen.“
Im August 1944 wurde Leon mit seiner Mutter und den vier Schwestern im Zuge der Liquidierung des Ghettos nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo er von seinen Angehörigen getrennt leben musste. Seine Mutter Nadja sah er nie wieder: sie wird kurz nach der Ankunft im Lager durch die SS vergast, seine Tante Eva auch. Mit ruhiger Stimme erzählte er: „Meine Mutter war 50, sah noch ganz fesch aus. Ich sehe sie vor meinem inneren Auge: dunkelblaues Kostüm, weiße Bluse, ein bisschen Rouge auf den Wangen. Auf der Rampe vor dem Eingang zum Lager winkte ich ihr zu und sie rief: Wir treffen uns drinnen - denn irgendein drinnen musste es ja geben. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe." Was Leon Weintraub von seiner Mutter bleibt, ist ein einziges Foto und die Erinnerung an ein gemeinsames Leben bis zu seinem 17. Lebensjahr. Leon selber überstand die Selektion an der Rampe von Auschwitz-Birkenau, da er als arbeitsfähig eingestuft wurde. „Den ersten Eindruck, als ich meinen Rucksack krampfhaft gehalten habe, war dieser Mann mit dem gestreiften Häftlingsanzug, der mir meinen Rucksack aus den Händen riss. Ich sage ihm, dass meine Briefmarken darin sind. Er sagte nur, hier kommt man nicht zum leben. Ich dachte nur - was redet er denn da für Dummheiten. Aber dann kam die unangenehme Überraschung, dass ich an keinem Ort des Lebens gelandet bin - mit dem stromführenden Zaun, das ist ja nicht für Menschen zum Leben". Sechs Wochen später gelang es ihm, aus der Hölle von Auschwitz zu entkommen. „Eines Tages sah ich zwischen den Baracken eine Gruppe nackter Menschen stehen. Ich war sehr scheu, aber schließlich habe ich gewagt zu fragen, was sie da machen. Sie sagten, sie warten darauf, raus zur Arbeit zu gehen. Das Wort „raus“ war ein Signal für mich. Ganz automatisch, spontan, ohne zu überlegen, warf ich meine Kleidung im Schatten einer Baracke von mir und drängte mich tief in die Masse der nackten Männer. Zum Glück hat man mich nicht kontrolliert. So bin ich mit der Gruppe rausgebracht worden ins KZ Groß-Rosen. Wenige Tage später wurde in Auschwitz der gesamte Block 10, mein Block, in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.“

Leon Weintraub wurde nach Dörnhau, in ein Außenlager des KZ Groß-Rosen deportiert. Später folgten die Konzentrationslager Flossenbürg und Natzweiler-Struthof/Offenburg. Die Befreiung erlebte Leon Weintraub kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges durch französische Truppen in Donaueschingen am 23. April 1945. Es gelang Weintraub mit anderen Häftlingen die Flucht, als der von SS Leuten begleitete Zug bei einer Verlegung von Fliegern beschossen wurde. Nach einem Fußmarsch kommt er im von Franzosen besetzten Donaueschingen an.
„Unsere Befreiung erfolgte durch französische Truppen. Das Wort Freiheit ist doch sehr relativ. Frei habe ich mich erst gefühlt, als ich durch einen Zufall meine Schwestern wiedergefunden habe, das war im September 1945. Sie dachten, ich sei ein Jahr zuvor in Auschwitz ermordet worden. Aber sie ahnten nicht, dass ich Auschwitz entkommen konnte, auf eine ganz besondere Weise.“
1946 nahm Leon Weintraub in Göttingen das Medizinstudium auf - und das, obwohl Leon nur sechs Jahre die Grundschule besucht hatte und kaum Deutsch sprechen konnte. „Die Universitäten mussten eine begrenzte Zahl an Studienplätzen für Displaced Persons anbieten, und so kam ich nach Göttingen. Das Deutsche verstehen konnte ich durch das Jiddische, meiner Muttersprache. Lesen und schreiben konnte ich aus der Grundschule. Ich habe dann in den zwei Monaten bis zum Studienbeginn sehr viel gelesen, um mich vorzubereiten. Mein Abitur holte ich mitten im Studium nach.“ 1950 kehrte Weintraub nach Polen zurück und wurde in einer Frauenklinik in Warschau als Gynäkologe angestellt. 1966 promovierte er. 1969 verlor Dr. Weintraub in Folge des zunehmenden Antisemitismus in Polen seine Anstellung als Oberarzt. Daraufhin wanderte er mit seiner Familie in das neutrale Schweden aus.
Die heutige politische Lage in Polen sieht er kritisch: „Für uns Überlebende ist es sehr zu bedauern, dass heutzutage junge Männer in naziähnlichen Uniformen mit Naziparolen marschieren. Ausgerechnet in Polen, das so gelitten hat. Es ist mir unbegreiflich. Entweder sind diese Menschen so beschränkt, dass sie die Geschichte nicht wahrnehmen oder sie sind so böse, dass sie das wollen, was die Nazis wollten." Der heute 93-jährige Dr. Leon Weintraub lebt mit seiner Frau Evamaria in der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Er habe sich für das Leben entschieden und sei Arzt und Geburtshelfer geworden: „Wenn Sie einen Kaiserschnitt machen, und ich habe viele Kaiserschnitte gemacht, dann sehen Sie, dass unter der Haut alle Menschen gleich sind. Wir alle werden als Menschen geboren und - ich hoffe, dass ihr Menschen bleibt.“ Leon Weintraubs Engagement als Zeitzeuge richtet sich gegen das Vergessen. Seine Botschaft lautet: „Die Erinnerung an das Geschehene lebendig zu halten, ist eine Art Gewähr dafür, dass so etwas nie wieder vorkommt. - Das Schlimmste ist das Vergessen.“

(Norbert Grümme)